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Artikel aus Mobile Times 3

Reale Virtuelle Räume

«Wer durch dieses Tor eintritt, lasse alle Hoffnung fahren...».

Diese Warnung könnte über den Lifttüren stehen, die der Besucher der multimedialen Installation Noise Gate-M6 von dem Duo Granular Synthesis, überwinden muss, um den «Empfangsraum» betreten zu können: unheimliche Dunkelheit umfängt den Besucher, der von grellen Geräuschen umhüllt wird. Ein kleines Lämpchen an der Wand verheisst einen Ausweg: eine weitere «Lift»schleuse führt den schon leicht Verstörten zwar in hellere Gefilde, aber keineswegs in angenehmere.

Zwei riesige Gesichter warten auf ein Gegenüber, das sie nicht aus ihrem Bann entlassen. Analog zur Geräuschkulisse führt der Kopf apathische Bewegungen aus, die sich unter presslufthammerähnlichem Stakkato steigern. Man sieht, wie der Kopf immer schneller gegen eine Glaswand schlägt und leidet mit dem Gefangenen mit, vor dessen Blicken man sich vorher fast verfolgt fühlte.

Wegrennen hat wenig Sinn, um die Ecke warten wieder zwei Riesengesichter, insgesamt füllen sechs Videoprojektionen die U-förmige Ausstellungshalle. Die Klänge dringen bis unter die Haarwurzeln und bevor man völlig gefangen ist wie der Zombie an der Wand, schleust man sich schnell wieder in die Reale Welt hinaus.

Starke Gefühle löst diese virtuelle Welt aus - «nichts für Nervenschwache» möchte man anmerken.

Technisches Know-how ist Voraussetzung, um derart intensive Wirkungen zu erzielen. Ausgangspunkt der Arbeit sind ein Videofilm und Tonfragmente. Bild und Ton werden durch Klonen und Samplen so verändert, dass einen neue visuelle und akustische Struktur entsteht. So wie bei jedem Telefonat der Originalton in kleinste Teilchen zerlegt wird und beim Empfänger wieder zusammengesetzt wird - und falls nichts dazwischen kommt, der Originalton wieder entsteht - so verfahren die beiden Künstler mit ihrem Originalmaterial. Aber sie beabsichtigen genau das, was sonst bei digitaler Übertragung als Fehler gilt: neue Bilder und Töne zu schaffen, die sich vom ursprünglichen Original deutlich unterscheiden und so eine neue virtuelle Originalität erlangen.

Die Installation verändert sich auch durch die Besucher, die unbewusst interaktiv in die Ablaufsteuerung eingreifen. Sie werden Teil der Installation, die Grenzen von Bildmensch und Betrachter verwischen, so wie die Grenzen zwischen Mensch und Maschine nicht mehr genau gezogen werden können.

Kurt Hentschläger und Ulf Langbeinrich, die unter dem Künstlernamen Granular Synthesis seit 1992 multimediale Installationen produzieren, haben nicht nur Ars Electronica Erfahrung, sondern konnten auch bei der ARTEC '95 in Japan einen Preis einheimsen. Ihr neues Projekt Noise Gate-M6 hatte in Wien im Museum für Angewandte Kunst Premiere und wandert ein Jahr lang quer durch Europa.

Die Schweiz wird von diesem elektronischen Kunstwerk nur umkreist, ohne berührt zu werden: Vom Start in Wien wandert die Multimedia-Installation über München zu den französischen Festivals in Crétail und Maubeuge, wird im Sommer in Hull, England, gezeigt und macht im Herbst in Amsterdam Station. Vorläufig letzter geplanter Ausstellungsort ist der Kunstverein Hannover.

Ein ausgezeichneter Essay von Tom Sherman im Katalog erklärt und vermittelt die Installation auch jenen, die sie nicht live erleben können. Leider liegt dem Katalog nur eine Audio CD bei, dem Thema wirklich gerecht würde aber nur ein Katalog auf CD-ROM. Aber vielleicht kann das ja noch nachgeholt werden.

Christine Köttl




MOBILE TIMES Home Letzte Überarbeitung: Montag, 3. Mai 2004
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